Vom Unterschied zwischen Theorie und Praxis

Rosa Lippenstift im Grünen, Nahaufnahme

Schmelzpunkte berechnen?

Vor einiger Zeit – ich hatte gerade zwei Lippenstifte gegossen – sah ich die beiden so vor mir stehen und spürte Lust zu weiteren Varianten und ganz anderen Konzepten. Dabei reifte in mir ein Gedanke: Gibt es vielleicht eine logische Formel für die Planung von Lippenstift-Formulierungen? Wie es so meine Art ist, begann ich zunächst zu recherchieren: In meinen Fachbüchern zuhause, in archivierten Zeitschriftenartikeln, online in englischsprachigen Magazinen.

Dort fand ich zunächst die Bestätigung meiner bisherigen Beobachtungen, die ich bei der Rezepturentwicklung für meine Lippenstifte für das Buch »Naturkosmetische Rohstoffe« gemacht hatte. Ein wesentlicher Aspekt ist, den optimalen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Masse in die Form gegossen wird. Geschieht dies zu früh, besteht die Gefahr, dass sich Pigmente beim Abkühlen in der sehr flüssigen Masse absetzen oder inhomogen verteilen; geschieht dies zu spät, ist die Masse angedickt und lässt sich nur noch mit Verlusten gießen.

Ich hatte derzeit beim Rühren der Lippenstift-Fettmasse mit dem metallenen Sensor meines Bratenthermometers diesen spezifischen Temperaturpunkt jeweils abgepasst, und es erwies sich ein Temperaturbereich um die 65 °C als ideal. Sobald dieser erreicht ist, muss man schnell sein und gießen – dann wird der Stift wunderbar und die Pigmente sitzen, wo sie sollen (wobei ich die Form immer sofort für 20 Minuten ins Tiefkühlfach stelle). Diesen Temperaturbereich fand ich auch als ideal für den Schmelzbereich von Lippenstiftmassen angegeben. Nur: Was ist mit »Schmelzpunkt« exakt gemeint? Die Temperatur (oder der Temperaturbereich), wenn etwas zu schmelzen beginnt? Wenn eine Masse ganz aufgeschmolzen ist? Vor allem: Kann man eine Formulierung wie einen Lippenstift einfach anhand der bekannten Mittelwerte aller Schmelzpunkte der enthaltenen Wachse errechnen? Das wäre natürlich phantastisch – aber sollte es wirklich so einfach sein? Ich war skeptisch.

Fragen über Fragen

Ich tat dann das, was ich in solchen Fällen immer tue: Ich rief bei einer auf Wachse spezialisierten Firma an und fragte einen Fachmann aus der Anwendungstechnik, der selbst im Labor steht und Formulierungen entwickelt. Durch ihn erfuhr ich das, was ich bereits vermutet hatte, nämlich dass eine rein mathematische Berechnung des Schmelzpunkts nicht funktioniere, um eine Lippenstiftformulierung nach Wunsch zu konzipieren. Man könne nicht einfach mit mathematischen Mittelwerten arbeiten, weil sich Fette beim Schmelzen und Erstarren durch verschiedene Parameter beeinflussen.

Ich recherchierte in diese Richtung ein wenig weiter und fand diese Aussage bestätigt: Schmelzpunkte werden u. a. durch die kristallinen Strukturen der Ingredienzien beeinflusst, von denen sich manche gegenseitig stören und instabilisieren, andere wiederum zusammen zu besonders stabilen Gittern aushärten. Einen weiteren Einfluss hat die sogenannte Schmelzenthalpie, also die Energie, die notwendig ist,  um eine spezifische Menge eines Stoffes bei einer bestimmten Temperatur zu verflüssigen, sprich Bindungskräfte zwischen Molekülen zu lösen.  Man kann nur eins machen, lautete das Fazit meines Anwendungstechnikers: Testen, testen, testen … und sich an die Rahmenrezepturen herantasten, die funktionieren. Ein klein wenig Carnaubawachs, und – wupps! – steige der Schmelzpunkt einer Masse unproportional. Daher gebe es keinen anderen Weg als den praktischen Test.

Digitales Bratenthermometer

Mein Tipp zum Gießen: 63–65 °C

Achten Sie beim Aufschmelzen der Fettmasse auf den Temperaturpunkt, an dem die Masse plötzlich in der Konsistenz anzieht. Das geht ganz hervorragend mit einem Bratenthermometer. Die Masse sollte bei ca. 63–65 °C gerade spürbar dicklicher werden. Ist dies bereits bei 70 °C oder höher der Fall, ist der Stift später eventuell zu hart; stockt sie erst bei 50 °C, bleibt er möglicherweise zu weich. Der metallene Sensor des Bratenthermometers eignet sich hervorragend zum Dispergieren wachsiger Fettmassen, da nur wenig an ihm haften bleibt; gleichzeitig misst er gradgenau die aktuelle Temperatur. Zu diesem Zeitpunkt sollten Sie spätestens und sehr schnell die Masse in die Formen gießen.

Eckdaten für die Planung

Die exakten Eigenschaften eines Lippenstifts – ob die Weichheit/Härte exakt so ist wie man es sich gewünscht hat, wie leicht er Farbe abgibt, ob er glänzt oder eher matt wirkt, wie gut er haftet, ob er Öl schwitzt oder mit der Zeit weißliche Ausblühungen zeigt – das alles wird von sehr vielen Faktoren beeinflusst, von denen der Schmelzbereich nur einer ist. Diese Faktoren müssen tatsächlich in Praxistests untersucht werden.

Was ich jedoch mit der Zeit herausgefunden habe, sind Eckdaten für die Planung von Lippenstift-Formulierungen, und diese Eckdaten sind sehr hilfreich, um Anhaltspunkte für die Konzeption eines Lippenstifts zum geben: Arbeitet man innerhalb dieser Eckdaten, wird es ein Lippenstift – also einer, der fest genug für eine Hülse ist, aber nicht so fest, dass man ihn nicht benutzen kann. Und: Meine bisher nach diesem Konzept hergestellten Lippenstifte zeigen auch nach einem Jahr noch kein Ölschwitzen und keine Auskristallisierungen. In meinem neuen Buch, an dem ich aktuell (2025) arbeite, werden Sie mehr darüber lesen können.

Autorenbild © Heike Käser | Olionatura®